Für TextilWirtschaft home 2/17 – Bild: Libeco Home
Eine Gesellschaft setzt sich bei heruntergelassenen Hosen auf Toiletten zu Tisch und unterhält sich über das Weltgeschehen, das mit am Tisch sitzende Kind wird zurechtgewiesen, als es Hunger bekundet – über solche Themen spreche man nicht – und ein Herr zieht sich diskret in eine Kabine zurück, in der er hinter verschlossener Tür ein Mittagessen einnimmt. In seinem Film „Das Gespenst der Freiheit“ von 1974 kehrt Luis Buñuel die Gepflogenheiten der Bougeoisie um und lässt groteske Szenen entstehen. Und hinterfragt, ob nicht allgemein anerkannte Konventionen gleichermaßen merkwürdig sein mögen. Wenn es oben reinkommt, ist es gesellig. Und wenn es unten rauskommt, sollte man lieber einen einsamen Ort aufsuchen?
Mit dem gedeckten Tisch hat sich der spanisch-mexikanische Filmemacher und Surrealist ein Motiv ausgesucht, an dem man in der Tat die gesamte Kulturgeschichte der Menschheit in ihrer Ambivalenz ablesen kann. Die Frage nach der Rolle der Tischwäsche damals und heute ist dabei vielleicht nicht ganz so umstritten. Allerdings war und ist auch sie dem sozialen Wandel unterworfen.
Schon in der ausgehenden Antike legte man Tücher auf kleine Tische, auf denen die Speisen gereicht wurden, während man im Liegen aß. Dazu standen Servietten und Fingerschalen mit Wasser zur Verfügung. Im Spätmittelalter saßen die Menschen auf Bänken und aßen von Tafeln, an denen Tücher angebracht waren, um sich Mund und Hände abzuwischen. Ab dem 13. Jahrhundert wurden die Tischplatten mit einem glatten Tuch bedeckt. Ein zweites legte man über die Kanten und ließ es bis zum Boden fallen. Die Gäste nutzten das umlaufende Tuch nach wie vor zum Reinigen von Händen und Mund und legten es über den Schoß, um ihre Kleidung zu schützen, quasi als überdimensionale, kollektive Serviette. Und die war dringend notwendig, denn Esswerkzeuge gab es seinerzeit nur spärlich, Messer steckten direkt im Mahl, man aß mit den Händen, später mit Löffeln, die man selbst - am Gürtel befestigt - mitbrachte. Erst ab dem 16. Jahrhundert setzte sich langsam die Gabel durch.
In der Renaissance sind immer noch Adel und Klerus die Epizentren der Zivilisation, von denen auch die Tischkultur ausgeht. Nicht umsonst dient das gemeinsame Mahl in den Weltreligionen als starkes Symbol: das Abendmahl Jesu’ als Zeichen seiner bleibenden Gegenwart oder „Sahūr“, die letzte Mahlzeit vor der islamischen Fastenzeit. Am Tisch finden das Religiöse und das Profane zueinander in Form von Gebeten, Ritualen und geselligem Beisammensein.
Die Tischdecke wird dank der virtuosen Damastweber jener Zeit zum textilen Zeugnis, indem sie das Stillleben-Motiv des gedeckten Tischs in den Stoff wirkten oder aufdruckten. Aus jener Zeit bleiben uns Blumenrapporte auf Tischdecken als Klassiker erhalten. Mit Aufkommen des Bürgertums im 18. Jahrhundert werden die Tischsitten Mittel zur sozialen Abgrenzung und verkomplizieren sich bis ins Unendliche. Eine wachsende Zahl an Besteck, nach komplexen Legesystemen angeordnet, setzt eine immer explizitere Reihenfolge von Abläufen voraus: Schneiden, zum Mund führen, nicht reden, Besteck exakt ablegen, Mund abtupfen, Serviette zurück auf den Schoß, schluckweise trinken, Nahrungsaufnahme wieder aufnehmen und so weiter und so fort. Diesen Regeln folgen wir in der westlichen Welt mehr oder minder bis heute und sie brachten selbst noch 1990 in dem Film „Pretty Woman“ die Prostituierte Vivian zum Verzweifeln, die als Begleitung des Brokers Edward Louis ein Geschäftsessen überstehen muss. Es gelingt ihr nicht, die Salatgabel auszumachen, und zu allem Überfluss springt ihr eine „Escargot“, eine Schnecke, aus der Zange geradewegs in die Hände eines Kellners. Das Versagen bei Tisch weist Vivian als unterprivilegiert aus, als „nicht dieser sozialen Schicht angehörig“. Dabei ist es nicht nur ihre fehlende Bildung, die zum Tragen kommt, sondern auch die fehlende Selbstkontrolle. Denn im Gegenteil zu anderen Distinktionsmitteln der Oberschicht, die womöglich vor allem Weltläufigkeit und Reichtum darstellen sollen, spielt beim guten Benehmen am Tisch die Disziplin eine tragende Rolle. Man wartet, beobachtet und übt sich im Zurückhalten unerwünschter Flatulenz.
Tischmanieren als Trennlinie zwischen der Noblesse der Oberschicht und der Barbarei des Proletariats. Und zwischen Lust und Anstand. Mit dem Ziel, den sinnlichen Akt des Essens in einen disziplinarischen Rahmen zu setzen. Dahinter steckt auch der protestantische Wunsch, den Geist über den Körper siegen zu lassen. Schließlich sind die historischen, religiösen und künstlerischen Analogien zwischen Essen und Erotik seit langem bekannt, sei es der Apfel der Erkenntnis, der Spargel als Phallus-Symbol oder Isoldes Zaubertrank. Lüsterne Frauen sind im Englischen „man-eater“ und lassen sich zu Deutsch „vernaschen“. Und einige Filmszenen, die als besonders erotisch in die Annalen der Kinogeschichte eingehen, handeln vom zügellosen Essen. In dem bis heute legendären Film „Das große Fressen“ von Marco Ferrreri aus dem Jahr 1973 wird durchgehend und gleichzeitig gegessen und kopuliert, während die Serviette nonchalant als Lätzchen im Hemd steckt. In „9 ½ Wochen“ aus dem Jahr 1986 von Adrian Lyne wird nicht nur auf Tischwäsche sondern gleich auf den ganzen Tisch verzichtet. Vor dem geöffneten Kühlschrank füttert John (Mickey Rourke) die junge Elizabeth (Kim Basinger) mit kaum zubereiteten Lebensmitteln direkt aus der Verpackung. Es wird verschüttet und ausgespuckt. Sie trinkt Milch direkt aus dem Krug, und die Hälfte läuft ihr am Mund vorbei. Es ist eine große Schweinerei, in jeglichem Sinn, denn die Völlerei endet im Geschlechtsakt. Dennoch: Kim Basinger trägt in der Szene einen blütenweißen Bademantel, der in diesem erotischen Bankett die Tischdecke ersetzt und ohne Reue beschmutzt wird. Das Textil ist also, wie in so vielen Lebenslagen, die Trennlinie zwischen Lust und Anstand. Die Tischdecke erfordert Disziplin beim Essen, um sie eben nicht zu verschmutzen. Die Serviette schützt vor dem Beflecken des Schoßes, vor diesem Hintergrund ein besonders delikates Bild.(...)
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